Schatzalp

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Schatzalp

Das imperiale Russland in den Alpen

Luxussanatorium Schatzalp

Das Luxus-Sanatorium Schatzalp wurde 1900 an einem sonnigen Berghang 300 Meter über Davos gegründet. Es bot die damals fortschrittlichste medizinische Be-handlung in einem Gebäude, das speziell entworfen wurde, um den Patienten ein Höchstmass an Komfort und Hygiene sowie eine ruhige, schöne und stilvolle Um-gebung zu bieten. Die Schatzalp war bei den britischen und portugiesischen Gäs-ten besonders beliebt und war immer eine wahrhaft internationale Einrichtung. Es war nicht ungewöhnlich, zu einem bestimmten Zeitpunkt Gäste aus zwanzig ver-schiedenen Ländern zu haben, dies nicht nur Europa, sondern auch Asien, Afrika, Südamerika und den Nahen Osten repräsentierten. Ein Emir aus Ägypten konnte im Speisesaal neben einer Baronin aus Belgien, einem Künstler aus Deutschland, ei-nem Geschäftsmann aus Brasilien oder einem Prinzen aus Indien sitzen – dasselbe Szenario, das Thomas Mann im “Zauberberg” beschrieben hat, aber wohl interes-santer, denn die Wahrheit ist fast immer “seltsamer als die Fiktion”!

Kaiser Wilhelm II. hatte drei Zimmer (die heutigen Kaiserzimmer, 101; 201 und 301) auf Dauer reserviert für den Fall, dass eines seiner Familienmitglieder an Tuberku-lose erkranken sollte, und obwohl keiner der Hohenzollern-Prinzen oder Prinzes-sinnen jemals auf die Schatzalp kommen musste, gab es dennoch einen sehr pro-minenten königlichen Gast: Großherzog Dmitri Pavlovich (Romanow) aus dem rus-sischen Kaiserhaus.

Das imperiale Russland in den Alpen

Grossfürst Dmitri Pawlowitsch (Romanow) wurde 1891 auf einem Landgut in der Nähe von Moskau geboren und war dazu bestimmt, ein aussergewöhnliches Leben zu führen. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, und sein stabiles Leben in der Heimat endete 1902, als sein Vater eine geschiede ne Frau heiratete und aus Russ-land verbannt wurde, so dass Dmitri und seine Schwester in der Obhut eines noto-risch strengen Onkels blieben. Obwohl sich die Kinder in ihrer neuen Heimat unbe-haglich und unglücklich fühlten, waren sie dennoch am Boden zerstört, als ihr On-kel im Februar 1905 bei einem Terroranschlag starb. Aber der Verlust hatte am En-de einen Silberstreif für Dmitri, der dann als Ersatzsohn von seinem “Onkel Nicky” – dem Kaiser Nikolaus II. von Russland – liebevoll angenommen wurde.

Als junger Mann absolvierte Dmitri die Nicholas Cavalry School in St. Petersburg und begann seinen Dienst im Horse Guards Regiment. Im Jahr 1912 nahm er als Teil der russischen Reiterstaffel an den Olympischen Spielen in Stockholm teil und war Berichten zufolge mit der ältesten Tochter des Zaren (Olga) verlobt, obwohl die Verlobung nie öffentlich bekannt gegeben wurde und nur von kurzer Dauer gewe-sen zu sein scheint – angeblich wegen Dmitris wildem Lebensstil in St. Petersburg und Moskau, wo man ihn oft in Gesellschaft verschiedener Demimondaine an den heissesten Nachtorten sehen konnte.

Ebenso bewegte er sich vor dem Ersten Weltkrieg in Paris in Künstlerkreisen und war unter den glamourösesten jungen Gesellschaftsschichten zu Hause. Als der Krieg ausbrach, kämpfte er mit der russischen Armee in Ostpreussen und wurde für die Rettung eines gefallenen Kameraden unter schwerem Artilleriefeuer ausge-zeichnet, doch nach seiner Versetzung ins Hauptquartier nahm er seinen “schnel-len” Lebensstil während seiner Beurlaubungen in St. Petersburg und Moskau wie-der auf. In der Zwischenzeit wurde sein Verhältnis zur Kaiserin angespannt, als er seine Einwände gegen ihre enge Verbindung mit dem skandalösen sibirischen Glaubensheiler Grigorij Rasputin äusserte. Als Rasputin seinen Einfluss auf das po-litische Reich ausdehnte, kam Dmitri zu der Überzeugung, dass das Überleben Russlands von der Entfernung des falschen “heiligen” Mannes abhing, und schloss sich einer Verschwörung zu dessen Ermordung an. Rasputin soll seinerseits vo-rausgesagt haben, dass der Zar und seine ganze Familie ausgelöscht werden wür-den, wenn ein Romanow die Hand gegen ihn erhob.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1916 lockten Dmitri und seine Mitver-schwörer Rasputin in ein Privathaus und versuchten, ihn mit zyanidgespicktem Wein und Kuchen zu vergiften. Als das fehlschlug, griffen sie zu Schusswaffen, feu-erten mehrere Schüsse ab und jagten ihr schwer zu tötendes Opfer irgendwann in einen verschneiten Innenhof hinaus. Rasputins Leiche wurde dann zu einer Brücke über dem Fluss Newa gefahren und in ein zuvor gefundenes Loch im Eis geworfen, aber die Verschwörer vergassen, sie zu beschweren, und einige Tage später wurde sie angeschwemmt. Die Nachricht von dem bizarren Attentat ging um den Globus und hat im Laufe der Jahre legendären Status erlangt und wurde zum Gegenstand unzähliger Bücher und Filme. Dmitri wurde unter Hausarrest gestellt und dann schnell in ein russisches Militärlager im abgelegenen Qazvin in Persien (dem heu-tigen Iran) geschickt, damit er nicht einen Versuch zum Sturz des Zaren unternahm. Er selbst behauptete, dass ein solcher Staatsstreich in Erwägung gezogen worden sei, dass er sich aber am Ende nicht dazu durchringen konnte, ihn durchzuziehen. Er war möglicherweise der letzte politische Exilant aus dem kaiserlichen Russland, und seine Verbannung hat ihm wahrscheinlich das Leben gerettet, als nur kurze Zeit später die Revolution ausbrach.

Nachdem er mehr als ein Jahr in Teheran unter dem Schutz des britischen Ministers und seiner Frau gelebt hatte, erhielt Dmitri schliesslich die Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich und kam im Dezember 1918 in London an, nachdem der britische Minister (Sir Charles Marling) das Auswärtige Amt davon überzeugt hatte, dass er der Spitzenkandidat für die Zarenwürde in einer wiederbelebten russischen Monarchie sei. Er fand die britische Königsfamilie sympathisch mit ihm, fühlte sich aber unbehaglich mit seiner Anwesenheit im Vereinigten Königreich zu einer Zeit, als die Revolution in ganz Europa eine echte Bedrohung darstellte und die Öffent-lichkeit den Romanows gegenüber feindselig eingestellt war. Aber er weigerte sich, das Land freiwillig zu verlassen und wurde nie wirklich “rausgeworfen”.

Dmitri verbrachte seine ersten Monate in Grossbritannien im Londoner Ritz, studier-te politische Ökonomie bei einem Professor der London School of Economics und engagierte sich in Affären mit so unterschiedlichen Frauen wie der skandalträchti-gen argentinischen Schauspielerin Teddie Gerard und Consuelo Vanderbilt, der Herzogin von Marlborough. Da er sich kein Auto leisten konnte, kaufte er sich statt-dessen ein Motorrad und adoptierte ein lebhaftes Chow Chow, um ihm im Hotel Gesellschaft zu leisten.

1920 zog Dmitri mit seiner Schwester und seinem Schwager nach Paris, wo er eine einjährige Romanze mit Coco Chanel begann. Zunächst versuchten die beiden, ih-re Beziehung geheim zu halten, indem sie in der Nebensaison inkognito nach Mon-te Carlo reisten. Dmitri glaubte immer noch, dass er eines Tages Zar werden könnte, und er hasste auch den Gedanken, als “ausgehaltener Mann” angesehen zu wer-den, aber bald wusste ganz Paris von der Liebesbeziehung zwischen dem ver-bannten Grossfürst und der glamourösen Couturier. Dmitris kreativer Einfluss auf Chanel während dieser Zeit ist bekannt, insbesondere in Bezug auf das berühmte Parfum Chanel No. 5, aber diese glückliche Periode seines Lebens dauerte nicht lange. Sein Bestreben, der Thronanwärter zu sein, wurde von der russischen Emig-rantengemeinde in Frankreich schnell zurückgewiesen, und nach seiner Trennung von Chanel zwangen ihn Geldsorgen – verschärft durch zwanghafte Glücksspiele – dazu, sich kurzzeitig als Champagnerverkäufer zu versuchen.

Gerade als seine Situation verzweifelte, lernte er in Paris eine junge amerikanische Erbin, Miss Audrey Emery, kennen, und die Ehe, die bald darauf folgte, brachte bei-den Partnern greifbare Vorteile – Audrey erhielt einen begehrten Titel (Prinzessin Romanowskaja-Iljinskaja), und Dmitri wurde von finanziellen Schwierigkeiten be-freit. Da seine Frau fest hinter ihm stand, kehrte er zu seiner Leidenschaft für die Po-litik zurück und spielte eine immer wichtigere Rolle in einer Emigrantenorganisation namens Partei Junges Russland, mit dem ausdrücklichen Ziel, eine “sozialistische Monarchiein Russland zu schaffen! Er hielt in ganz Frankreich Reden, in denen er seine Emigrantenkollegendazu aufrief, stolz auf die Errungenschaften Russlands selbst unter dem Sowjetre-gime zu sein. Aber wieder einmal war sein Glück nur von kurzer Dauer. Ungeachtet der praktischen Vorteile seiner Ehe hatte er sich wirklich nach einem warmen, stabi-len Familienleben gesehnt und war niedergeschmettert, als die Beziehung 1935 zu zerbrechen begann. 1939 war er ein geschiedener Mann, der allein im Hotel Geor-ges V. in Paris lebte, desillusioniert von der Partei Junges Russland und ihrem cha-rismatischen Führer Alexander Kazem Bek, der angeblich ein sowjetischer Agent war. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, sein “staatenloser” Sta-tus machte seine Position in Frankreich prekär, und zu seinem Entsetzen wurde der junge Anwärter auf den russischen Thron von den Nazis aktiv umworben.

In einem Presseinterview im Januar 1939 prangerte Dmitri jede Verwicklung der Romanow-Familie in den Nationalsozialismus an und zog sich dann ins Privatleben zurück. Während Europa am Rande des Krieges wankte, entdeckte er, dass sein eigenes Leben am seidenen Faden hing, und machte sich auf den Weg nach Da-vos in einem der letzten Züge, die Paris vor Ausbruch der Feuersbrunst verliessen. Im Hotel Angleterre in Davos Dorf erfuhr er, dass alle Sanatorien geschlossen seien, und rief in Panik auf der Schatzalp an, um sich zu versichern, dass er dort als Pati-ent empfangen würde. Bei seiner Ankunft im Sanatorium am nächsten Tag fiel er als erstes auf die Knie auf dem Boden seines Zimmers und dankte Gott, dass er ihn si-cher dorthin gebracht hatte!

Zu diesem Zeitpunkt war seine Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass sogar der Chefchirurg der Schatzalp, der weltbekannte Dr. Gustav Maurer, verzweifelt ver-suchte, ihn zu retten, aber wider Erwarten überlebte er und begann sogar zu gedei-hen, indem er so viel Gewicht zunahm, dass er sich in Davos eine ganz neue Gar-derobe kaufen musste. Er erhielt die Erlaubnis, in einem der Kellerräume auf der Schatzalp eine Modelleisenbahn zu errichten, und wurde ein häufiger Gast in Schneiders Caf é, wo sich die Gegner der Nazis versammelten. Es entwickelte sich eine Romanze zwischen ihm und einer Mitbewohnerin der Schatzalp, einer jungen Frau aus Palermo, und auch mit Dr. Maurer und seiner eleganten belgischen Frau pflegte er herzliche Beziehungen und nahm gerne Einladungen zum Abendessen in der Villa Guarda an. Er sah Walt Disneys “Schneewittchen” bei einer Vorführung auf der Schatzalp und bestaunte es, verbrachte unzählige Stunden damit, Radiobe-richte über den Krieg zu hören, und füllte Seite um Seite mit Tagebucheinträgen, die zusammen mit seinen Briefen an seine Schwester und einen Privatsekretär in Paris einen unschätzbaren Bericht aus erster Hand über das Leben auf der Schatzalp während einer der merkwürdigsten Perioden ihres Bestehens liefern.

Ein lebensechter (wenn auch unfreiwilliger) Castorp, Grossfürst Dmitri von Russ-land, ehemaliger Olympionike, politischer Attentäter, Möchtegern-Zar und gefeierter Liebhaber, lebte fast zweieinhalb Jahre lang im Sanatorium Schatzalp im heutigen Zimmer 309, einem bescheidenen, aber sehr geschätzten “Grossfürstzimmer” für einen Mann, der von Kindheit an gelernt hatte, das Glück zu suchen, wo immer er es finden konnte, und nie etwas für selbstverständlich zu halten.

Dmitri starb plötzlich am 5. März 1942, Berichten zufolge, nachdem er von Dr. Mau-rer entlassen worden war und Gastgeber einer Party mit russischem Thema zur Feier seiner bevorstehenden Abreise war. Zwei Gerüchte gehen von seinem Auf-enthalt auf der Schatzalp aus – das erste behauptet, dass seine Krankenschwester, eine Frau mit erstaunlicher Gesichtsbehaarung, in Wirklichkeit ein verkleideter männlicher Leibwächter war, und das zweite, dass sein plötzlicher Tod tatsächlich das Ergebnis eines Mordes war! Seine Korrespondenz mit seiner Schwester bestä-tigt die Existenz der Krankenschwester mit Schnurrbart, aber es wurden nie Bewei-se für einen Mord (oder ein Mordmotiv) vorgelegt, und sein Tod war mit ziemlicher Sicherheit auf natürliche Ursachen zurückzuführen – der letzte Akt zu einem ausser-gewöhnlichen Leben.

Zusätzlich zu den gerahmten Fotografien von Dmitri und Chanel bietet Zimmer 309 einen grossen Balkon mit originalen “Liegekur”-Liegestühlen und einer wahrhaft grossartigen fürstlichen Aussicht. Geniessen Sie auf der Schatzalp einen kleinen Vorgeschmack auf die kaiserlich-russische Geschichte!

Verfasst von Dr William Lee / Portland, Oregon (USA) 28. Mai 2020

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